Rezension – Basil Henry Liddell Hart: Strategie

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Basil Henry Liddell Hart: Strategie. Wiesbaden, Rheinische Verlags-Anstalt o. J. [1955]; (Strategy. London, New York 1954 <dt.>). Aus dem Englischen übertragen von Horst Jordan. 462 S.

Die Frage, ob sich etwas aus der Vergangenheit lernen lässt, ist mehr als umstritten. Von Seiten der meisten Historiker schallt den Anhängern der applikatorischen Methode ein lautes „Nein!“ entgegen. Man erforsche die Geschichte nicht um „klüger für das nächste Mal“, sondern um „weise für immer“ zu werden. Es scheint sich in diesen Kreisen noch nicht herumgesprochen zu haben, dass man durchaus das eine tun kann, ohne das andere zu lassen.

Unbeschwert von den Auseinandersetzungen der (zumeist deutschen) Historiker versucht der Autor, aus unzähligen Feldzügen der letzten 2.500 Jahre allgemeine Gesetzmäßigkeiten der militärischen Strategie zu extrahieren. Das Ergebnis besteht in der Erkenntnis, dass ein direktes Vorgehen zumeist scheitert bzw. hohe Verluste nach sich zieht, während ein indirektes Vorgehen (indirect approach) im Allgemeinen erfolgreich ist.

Basil Henry Liddell Hart kam am 31. Oktober 1895 in Paris zur Welt. Im ersten Weltkrieg diente er als Offizier in den britischen Streitkräften. Bei dieser Gelegenheit hatte er sicher oft die Möglichkeit, sich eine Meinung über den Sinn direkter Angriffe auf befestigte, mit Stacheldraht bewehrte, von Maschinengewehrschützen verteidigte Stellungen zu bilden.

Zur Zeit der Entstehung des Buches war die Vernichtungswirkung der Waffen zu einer Bedrohung für die Menschheit geworden: Angesichts der Existenz von Wasserstoffbomben glaubten die Zeitgenossen Liddell Harts, auf eine Strategie verzichten zu können. Dem widerspricht der Autor. Die Tatsache, dass der Einsatz von Nuklearwaffen Selbstmord wäre, verlange geradezu die Rückkehr zur indirekten Methode.

Das Werk gliedert sich in vier Teile, deren erste drei den historischen Beispielen vorbehalten sind. Der vierte Teil widmet sich der Theorie der Strategie. Die militärische Strategie ist in eine Höhere Strategie (grand strategy) eingebettet. „Höhere Strategie hat nicht nur die verschiedenen Kriegsinstrumente zu korrigieren, sondern deren Einsatz auch so zu lenken, daß Schaden für den späteren Frieden, für Sicherheit und Wohlstand vermieden wird. Der schlechte Frieden nach so vielen Kriegen beruhte meistens auf der Tatsache, daß im Gegensatz zur [militärischen] Strategie das Reich der höheren Strategie zum größten Teil terra incognita ist, ein Gebiet, daß noch zu erforschen bleibt.“ (S. 397).

Aufgabe der militärischen Strategie ist es, „die Möglichkeiten des Widerstandes zu verringern.“ (S. 398). Hierfür sind die Elemente Bewegung (physisch) und Überraschung (psychisch) von Bedeutung. Zweck der Strategie ist die Beschränkung von Kampfhandlungen auf ein Mindestmaß. Hier sieht sich der Autor im Widerspruch zu den Clausewitz-Apologeten, für die die Vernichtung der feindlichen Streitmacht in einer Entscheidungsschlacht höchstes Ziel des Krieges ist. Für Liddell Hart ist diese Vernichtung nicht nötig, für ihn reicht es aus, den Feind in eine aussichtslose Lage zu manövrieren. Eine Schlacht sollte nur begonnen werden, wenn man sich in einer günstigen strategischen Lage befindet. Hierzu sollten die feindlichen Dispositionen umgeworfen, die Verbände des Gegners getrennt, sein Nachschub gefährdet oder seine Rückzugswege bedroht werden. Die psychologische Verwirrung des Gegners wird erreicht, indem diesem das Gefühl gegeben wird, in einer Falle zu sitzen. Den Feind direkt von vorn zu attackieren hat den Effekt, dass er in Richtung seiner Reserven und Nachschubgüter gedrängt wird und sich so neu formieren kann. Auf der physischen Ebene ist der Weg des geringsten Widerstands zu wählen; auf der psychischen Ebene der Weg, den der Gegner am wenigsten erwartet.

Der Autor stellt acht Leitsätze der Strategie auf:

„1.) Stimme dein Ziel auf die zur Verfügung stehenden Mittel ab. […]

2.) Verliere dein Ziel niemals aus den Augen, wenn du deinen Plan den Verhältnissen entsprechend abwandelst. […]

3.) Wähle einen Weg, den der Gegner am wenigsten erwartet. […]

4.) Nutze die Richtung des geringsten Widerstandes aus – solange sie dich dem Endziel näherbringt. […]

5.) Nimm eine Operationsrichtung, die verschiedene Ziele anbietet. […]

6.) Stelle sicher, daß sowohl dein Kriegsplan, als auch die einzelnen Dispositionen flexibel sind […].

7.) Wirf dich nicht auf einen Gegner, der auf der Hut ist […].

8.) Nimm keinen Angriff in der gleichen Richtung (oder in der gleichen Form) wieder auf, wenn der erste fehlgeschlagen ist.“ (S. 412f.).

Schließlich betont Liddell Hart erneut die Bedeutung der höheren Strategie. Er weist auf das Primat der Politik hin; im Krieg müsse man immer den folgenden Frieden im Auge behalten. Eine Konzentration auf das nur Militärische ist also wenig zielführend.

„Strategie“ ist eine Antwort des Autors auf die in den 1950er Jahren entwickelte Atomkriegsdoktrin, die für den Fall einer sowjetischen Invasion in Westeuropa oder Asien eine „massive Vergeltung“ mit nuklearen Waffen vorsah. Er setzt dieser Doktrin das Prinzip des indirekten Vorgehens entgegen. Paradoxerweise war die Atomkriegsdoktrin Ergebnis der Auswertungen der strategischen Luftoffensiven des zweiten Weltkriegs (vor allem gegen Japan), die wiederum auf dem Prinzip des indirekten Vorgehens beruhten. Statt das Leben hunderttausender amerikanischer Soldaten bei einer Landung in Japan zu opfern, wollte man auf indirektem Weg zum Erfolg gelangen. So wurde Japan Ziel schwerer Luftangriffe. Durch die Serienproduktion von Atomwaffen und das Prinzip der „massiven Vergeltung“ wurde dieses Vorgehen zu einem direkten Konzept.

Dass Liddell Hart als britischer Autor das Konzept des indirekten Vorgehens heraus gearbeitet hat, ist wenig erstaunlich. Die britische Kriegsführung bestand in der Geschichte oft aus der Blockade feindlicher Küsten, aus dem Angriff auf die feindlichen Seeverbindungslinien, in dem Führen eines Wirtschaftskrieges und dem Zahlen von Subsidien an verbündete Landmächte. Die vorhandenen Mittel mussten angesichts der Größe des Empires äußerst ökonomisch verwendet werden. Spielte im ersten Weltkrieg die Fernblockade der Royal Navy eine wichtige Rolle, waren im zweiten Weltkrieg die Angriffe der Royal Air Force zeitweise das einzige Mittel, das angesichts der Überlegenheit der deutschen Wehrmacht eingesetzt werden konnte. Insofern waren Liddell Harts Erkenntnisse nicht neu; er hielt es aber offensichtlich für notwendig, wieder an sie zu erinnern.

Es ist dem Autor gelungen, seine Thesen überzeugend zu vermitteln. Allein die Quantität der historischen Beispiele wäre ausreichend; die Konzeption ist jedoch auch in sich schlüssig. Es leuchtet ein, dass ein fröhliches Drauflosmarschieren auf den Feind wenig erfolgversprechend ist. Darüber hinaus sollte es Allgemeingut sein, dass ein militärisches Vorgehen nur im Rahmen einer politischen Strategie sinnvoll sein kann.

Das Werk Liddell Harts hat auch in der heutigen Zeit nichts von seiner Relevanz verloren. Ist es z. B. bei Betrachtung des dritten Golfkriegs (2003) wirklich notwendig, auf die Tatsache hinzuweisen, dass man im Krieg den folgenden Frieden im Auge haben muss oder dass die Planung eines Krieges nur Bestandteil eines politischen Gesamtkonzeptes sein darf?

Im Übrigen lässt sich bei Liddell Hart auch in Bezug auf die Europäische Union einiges lernen: „So bedauerlich es dem Idealisten erscheinen mag, die Geschichte liefert wenig Beweismaterial für die Annahme, daß echter Fortschritt […] in Zusammenschlüssen liegt. Denn wo auch immer Zusammenschlüsse zur Einheit der Gedanken geführt haben, endeten sie üblicherweise in einer Einförmigkeit, die das Gedeihen neuer Gedanken lähmte. Wo aber Zusammenschlüsse nur eine künstliche auferlegte Einheit brachten, führte das Unnatürliche bald wieder zum Bruch. […] Föderation ist die hoffnungsvollere Methode, denn sie schließt das lebenspendende Prinzip der Zusammenarbeit in sich ein, während eine Fusion die Erringung einer Monopolstellung seitens einer einzigen politischen Interessenrichtung begünstigt.“ (S. 433f.). Eine gewiss vernünftige Haltung, die die EU-Skepsis zahlreicher Briten erklärt.

In deutscher Sprache ist das Buch nur noch antiquarisch zu haben. Nichtsdestotrotz sollte es Standardlektüre nicht nur von Historikern und Militärs, sondern vor allem von Politikern sein.

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