
Im Versuch, sich über den derzeitigen russisch-ukrainischen Krieg zu informieren, sieht sich der Medienkonsument einem Konglomerat aus Propaganda, richtigen und falschen Bildern aber vor allem: aus unzusammenhängenden Informationsfetzen ausgesetzt. Auf Contemplator.de wird es wöchentliche Zusammenfassungen der Ereignisse mit einem militärfachlichen Schwerpunkt geben. (Das schließt weitere Artikel mit anderen Schwerpunkten natürlich nicht aus.)
Betrachten wir zunächst das Kräfteverhältnis: Die russische Seite hat 190.000 Soldaten aufgeboten, von denen noch nicht alle in der Ukraine eingetroffen sein sollen. Hinzu kommen die Milizen der Volksrepubliken Donezk (20.000 Mann) und Lugansk (14.000 Mann) sowie eine unbekannte Anzahl an Freiwilligen aus dem Donbass und Tschetschenien (vermutlich einige Tausend). Nach gegenwärtigen Erkenntnissen sind am Angriff auf die Ukraine eine mechanisierte Division, zwei Panzerdivisionen, sechs mechanisierte Brigaden, ein mechanisiertes Regiment, eine Küstenschutzbrigade, eine Speznas-Brigade und weitere Spezialeinheiten, zwei Luftsturmdivisionen, zwei Luftsturmbrigaden, eine Marineinfanteriebrigade sowie ein Regiment der Nationalgarde beteiligt. (Diese Angaben erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit.) Soldaten des mit Russland verbündeten Weißrusslands beteiligen sich augenscheinlich nicht an der Invasion. Dennoch ist Weißrussland Kriegsteilnehmer, da von seinem Hoheitsgebiet aus russische Verbände ihren Angriff durchführen.
Die ukrainischen Streitkräfte haben eine Friedensstärke von 209.000 Soldaten. Die Zahl der Reservisten beträgt 900.000. Es ist unbekannt, wie viele bereits eingezogen wurden. Hinzu kommen paramilitärische Einheiten, die 102.000 Mann stark sind. Es ist unklar, wie viele von ihnen auch Reservisten sind. Die Armee besteht aus vier mechanisierten Brigaden, einer Panzerbrigade, einer Gebirgsjägerbrigade, einer Marineinfanteriebrigade, einer Sicherungsbrigade des Generalstabs und Spezialeinheiten. Hinzu kommen eine Brigade und zwei Bataillone der Nationalgarde, eine Brigade und zwei Bataillone der Territorialeinheiten, Grenzschutzeinheiten, Polizeibataillone und die Alpha-Gruppe des Innenministeriums. Ergänzt werden die ukrainischen Kräfte durch die georgische Legion sowie Freiwillige aus Aserbaidschan und Kroatien. Wie auf der russischen Seite, kämpfen Tschetschenen auch für die Ukraine (Dudajew-Bataillon). Gegenwärtig wird im Rahmen der Territorialverteidigung eine internationale Legion aufgestellt.
Der bisherige Verlauf: Als der russische Angriff auf die Ukraine begann, war noch nicht klar, welches Ziel damit verfolgt wurde. Die unmittelbar zuvor veröffentlichte Rede Wladimir Putins war nicht eindeutig: „Wir haben nicht vor, die ganze Ukraine zu besetzen, aber sie zu demilitarisieren.“ Am 24. Februar 2022 überschritten russische Truppen die Grenzen zu den abtrünnigen Volksrepubliken, die zuvor von Russland anerkannt worden waren. Gleichzeitig fanden Luft- und Raketenangriffe auf Ziele in der gesamten Ukraine statt. Daraus ließ sich noch nicht schließen, dass das ganze Land besetzt werden solle. Das gleichzeitige, überraschende Ausschalten der Luftwaffe, der Luftverteidigungsanlagen, der Kommunikationseinrichtungen und sonstigen Verbindungslinien des Gegners in der gesamten Tiefe des Operationsraums gibt den eigenen Truppen eine große Handlungsfreiheit. Seit dem Ende des 20. Jahrhunderts ist ein solches Vorgehen Standard, dargelegt z. B. in der amerikanischen Air Land Battle-Doktrin. Russland wäre so in der Lage gewesen, die Regionen Donezk und Lugansk schnell zu besetzen und vollendete Tatsachen zu schaffen.
Doch recht bald wurde klar, dass die ganze Ukraine besetzt werden soll. Die Angriffe von Norden aus auf Kiew und im Süden von der Krim waren keine Ablenkung zur Unterstützung der Einverleibung der abtrünnigen Republiken, sondern Bestandteile eines umfassenden Plans.
Die Durchführung der russischen Militäroperation wirft zum gegenwärtigen Zeitpunkt Fragen auf. So rätseln westliche Geheimdienste, aus welchem Grund die Zahl der bisher eingesetzten russischen Soldaten so niedrig war. Hatte Putin die Angelegenheit unterschätzt? Die Stärke der ukrainischen Armee war auch in Russland bekannt. Ebenso die Entschlossenheit der meisten Ukrainer, ihre Unabhängigkeit zu bewahren. Mit der (vermutlich geplanten vollständigen) Besetzung der Ukraine hat die russische Führung jedenfalls die schlechteste der zur Verfügung stehenden militärischen Optionen gewählt. Und nicht nur das: Auch die Durchführung scheint wenig durchdacht. Anstatt ihre Kräfte zu konzentrieren, werden sie verzettelt, da die russische Armee in breiter Front vorgeht. Wenn sich das russische militärische Denken auf die sowjetische Militärdoktrin gründet, wird die russische Führung davon ausgehen, dass ein erfolgreicher Angreifer vier- bis sechsmal mehr Soldaten, drei- bis fünfmal mehr Panzer und sechs- bis achtmal mehr Artilleriesysteme als der Verteidiger einsetzen solle. Zumindest aber sei eine dreifache Überlegenheit sicherzustellen. Des Weiteren spielt die Kampfmoral eine entscheidende Rolle. Wenn man der Berichterstattung glauben schenken kann, sind die russischen Soldaten jedoch kaum motiviert.
Andererseits ist festzuhalten, dass die russischen Truppen innerhalb von vier Tagen im Norden und Osten 100 Kilometer und im Nordosten und Süden 200 Kilometer weit vorgerückt sind (siehe Karte). Das entspricht einem Angriffstempo von 25 bzw. 50 Kilometern am Tag. (Ein vergleichbares Tempo wurde von der sowjetischen Armee im zweiten Weltkrieg erreicht.) Zum Vergleich: Im kalten Krieg enthielten die Vorgaben für die Armeen der Warschauer Vertragsstaaten ein Angriffstempo von 100 Kilometern am Tag. Zumindest in der Theorie. Dabei wurden Verluste von 20 Prozent für die ersten 24 Stunden angenommen, nach fünf Tagen galt die betreffende Truppe (nach 60 Prozent Verlusten) als vernichtet. Was den derzeitigen Konflikt in der Ukraine betrifft, werden die entsprechenden Daten frühestens mittelfristig zur Verfügung stehen.
Im Augenblick ist es noch völlig unklar, wie sich die Situation weiter entwickelt. Dass eine Seite einen schnellen militärischen Sieg erringt, ist extrem unwahrscheinlich.